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Frankfurt am Main, 07.07.2023

Leichtathletik-Legende Steffi Nerius im Sporthilfe-Interview: „Neun-Meter-Sprung ist für Markus Rehm möglich“

Am morgigen Samstag (8. Juli) beginnt die Para-Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Paris. Im Sporthilfe-Interview spricht die frühere Weltklasse-Speerwerferin Steffi Nerius und heutige Trainerin von Weitsprung-Weltrekordler Markus Rehm über ihre Erwartungen an die WM, den Ausbau der paralympischen Förderung, ihr Engagement im Gutachterausschuss der Sporthilfe und über ein mögliches Ende ihrer Trainerlaufbahn.

Steffi, am Samstag beginnt die Para-Leichtathletik-WM in Paris. Was traust Du Markus Rehm, der die deutsche Mannschaft anführt, dort zu?
Markus‘ Anspruch ist klar: Er will Weltmeister werden – und noch mehr: Zum Saisonhöhepunkt ist für uns immer das Ziel, persönliche Bestleistung zu springen. Nachdem er dieses Jahr bereits seinen eigenen Weltrekord übertroffen hat [um 8 Zentimeter auf8,72 m am 25.06.23 in Rhede; Anmerk. der Red.], kann das logischerweise nur heißen: Nochmals Weltrekord. Und das ist absolut möglich, denn die Landung bei seinem letzten Weltrekordsprung in Rhede war noch nicht perfekt. Er hat noch Potenzial. Selbst die neun Meter sind inzwischen möglich. Allerdings müssen alle Rahmenbedingungen für so einen Sprung perfekt sein. Deswegen ist das Hauptziel, zu gewinnen und seinen eigenen Championship-Rekord von 8,40 m zu verbessern.

Was erwartest Du insgesamt vom deutschen Team bei der WM?
Die deutsche Mannschaft ist mit 29 Athleten plus zwei Guides nicht groß, hat aber eine hohe Qualität. Wichtig ist, dass sie möglichst viele Plätze für die Paralympics erreichen. Ich betreue von den Startern noch einen griechischen Athleten sowie Noah Bodelier im Weitsprung und Lise Petersen im Speerwerfen. Für die beiden letztgenannten Nachwuchsathleten geht es erstmal auch darum, dabei zu sein und Erfahrungen sammeln zu können.

Wie siehst Du die Entwicklung des Para-Sports in den letzten Jahren?

Der Para-Sport hat in Deutschland eine großartige Entwicklung genommen. Wenn man ihn mit dem olympischen Sport vergleicht, sieht man, dass Aufwand und Leistungen inzwischen nahezu identisch sind – wobei die Para-Athleten fast noch mehr trainieren, zumindest meine Trainingsgruppe (lacht). Ich finde es toll, was im Para-Sport passiert ist und wie die Leistungen mittlerweile anerkannt werden.

Spiegelt sich das ausreichend in der Förderung wider?

Wie die Leistung und die Professionalität entwickelt sich auch die Förderung peu à peu weiter. Die Sporthilfe ist mit ihren Programmen Vorreiter bei der Anpassung an die olympische Förderung, die inzwischen in den meisten Bereichen vollständig angeglichen ist. Allein in diesem Jahr sind mit der paralympischen Elite-Förderung und der „Duale Karriere Berufsqualifikation“ zwei Meilensteine in der Gleichstellung der Förderung von Para-Sportlerinnen gesetzt worden.

Du engagierst Dich bereits seit 13 Jahren im Sporthilfe-Gutachterausschuss – ehrenamtlich…

Als ich1991 von Ostdeutschland nach Leverkusen kam, war für mich die Sporthilfe und mein Verein TSV Bayer 04 Leverkusen e.V. die Rettung. Nur dank dieser Unterstützung konnte ich mit dem Leistungssport weitermachen – und nach meiner aktiven Karriere wollte ich der Sporthilfe so wieder etwas zurückgeben. Heute ist es mir zusätzlich wichtig, strategisch mit eingebunden zu werden. Ich will wissen, wo es Probleme gibt und wie geholfen werden kann. Und das Schöne daran ist: Es wird von den Athleten gesehen und wertgeschätzt. Wobei ich grundsätzlich von Para-Athleten mehr Dankbarkeit wahrnehme, es ist ein anderes Feedback als von olympischen Sportlern – zumindest was die von mir trainierten Athleten betrifft. Es sind großartige Typen!

Heißt das, Du wirst auch weiterhin als Trainerin arbeiten, obwohl Du eigentlich als Leiterin des Sportinternats in Leverkusen bereits einen Vollzeitjob hast?

Ich mache auf jeden Fall bis zu den Spielen in Paris weiter. Was danach kommt, hängt von Markus ab. Als ich meine sportliche Karriere 2009 beendet habe, ist er zum ersten Mal zum Schnuppertraining zu mir gekommen. Mit ihm habe ich als Vollzeittrainerin angefangen. Für mich ist klar, dass ich als Trainerin aufhöre, wenn Markus seine Sportkarriere beendet. Bei den Paralympics im kommenden Jahr ist er 36. Aber wann er Schluss macht, kann natürlich nur er selbst entscheiden.

Der Übergang von der aktiven Karriere in das Leben „danach“ ist für Viele eine Herausforderung. Hattest Du dafür immer einen konkreten Plan?
Nein, aber ich bin sehr glücklich, wie alles gekommen ist. Mit 37 Jahren habe ich meine eigene sportliche Karriere beendet und darunter dann sozusagen einen grünen Haken gesetzt. Mit dem Ende der Trainerkarriere kommt dann der zweite Haken – und auch dieses Kapitel war Weltklasse. Ich habe neben Markus viele weitere großartige Athletinnen und Athleten betreuen dürfen, wie zum Beispiel Franziska Liebhardt und Mathias Mester.

Und welcher „Haken“ fehlt noch?
Als ich nach der Wende 1991 nach Leverkusen gekommen bin, habe ich nicht verstanden, dass es hier kein Vollinternat gibt. Aktuell werden Wohnungen angemietet und Jugendliche erst ab 16 Jahren aufgenommen. Mein Herz hängt am gesamten Verein, aber insbesondere an der Nachwuchsförderung. Und dadurch ist mein Ziel, hier ein Vollinternat mit aufzubauen. Wenn alles gut läuft, schaffen wir das bis 2026. Dann will ich noch helfen, das Ganze ins Laufen zu bringen und hoffe, mit vielleicht schon 60 Jahren, den dritten Haken machen zu können.

Dafür wünschen wir alles Gute. Vielen Dank für das Gespräch!

 

Abdruck honorarfrei.

Quelle: Deutsche Sporthilfe

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Zur Person: Steffi Nerius (* 1. Juli 1972 in Bergen auf Rügen)

Steffi Nerius gewann 2004 bei den Olympischen Sommerspielen in Athen die Silbermedaille im Speerwerfen. 2006 wurde sie Europameisterin, 2009 krönte sie ihre Karriere mit dem Weltmeistertitel. Von der Sporthilfe wurde sie von 1991 bis 2009 gefördert, heute ist sie Mitglied im Sporthilfe Alumni-Club. Nach ihrer aktiven Karriere  war sie zunächst als hauptamtliche Trainerin beim TSV Bayer 04 Leverkusen im Behindertensport tätig und betreut dort u.a. Markus Rehm. 2015 übernahm sie die hauptamtliche Leitung des Sportinternats in Leverkusen. Seit 2010 ist sie zudem ehrenamtlich im Gutachterausschuss der Sporthilfe tätig.

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