„Im Eiskunstlauf fehlen heute die Emotionen“

Die eine prägte den Eiskunstlauf der 1950er und 1960er Jahre, die andere gehört zur Weltspitze von heute: Marika Kilius und Annika Hocke verbindet derselbe Sport – getrennt durch sieben Jahrzehnte. Ein Gespräch über Unterschiede, den Umgang mit Druck und die kommenden Olympischen Spiele.


Marika Kilius, angenommen, Sie wären heute als Eiskunstläuferin aktiv – was würde Sie am meisten irritieren?

Marika Kilius: Die neue Wertung. Das hat dem Sport leider absolut nicht gutgetan. Wo früher die 6,0 die Höchstwertung war und das jeder wusste, versteht heute niemand, wie die Wertung zustande kommt. Als würde man beim Fußball den Elfmeter wegnehmen! Heute werden Elemente und Übergänge mehr oder weniger abgehakt. Im Eislaufen ist dadurch die Emotion weg. Das war für die Zuschauer ja das Interessante.

Annika Hocke: Stimmt. Früher wusste jeder: Der ist hingefallen, das kann keine 6,0 sein.

Marika Kilius: Genau! Ich verstehe nicht, wieso man das nicht wieder ändert. Bei den Olympischen Spielen 1956 in Cortina saßen die Kampfrichter noch auf dem Eis und haben ihre Wertungstafeln hochgehalten. Wir wurden Vierte. Da haben die Zuschauer von der Tribüne mit Orangen und Zitronen geworfen, weil sie fanden, wir wurden zu schlecht bewertet. Diese Emotionen sind nicht mehr da.

Annika, woran denkst Du bei der Eiskunstlaufwelt von früher?

Annika Hocke: Was ich gerne erleben würde: Wie der Eiskunstlauf damals angesehen wurde. Ich höre das manchmal von Leuten, die bei Shows zu uns sagen: ‚Ich habe das früher immer geguckt, ich durfte als Kind extra länger wachbleiben.‘ Das gibt’s heutzutage nicht mehr, zumindest nicht in Deutschland. Da kennt keiner die Eiskunstläufer.

Das Gefühl, dass sich da wirklich eine ganze Nation für den Sport begeistert, das wäre toll.

Marika Kilius: Das war auch wirklich toll. Ich muss sagen, ich bin froh, damals den Erfolg gehabt zu haben. Mit Social Media und diesem ganzen Theater ist es heute sicher wesentlich anstrengender als früher.

Eine andere große Änderung: Heute lauft Ihr in der Halle, früher fand alles draußen statt.

Zweimal Olympiasilber, zweimal Weltmeister und sechsmal in Folge Europameister: 2011 wurden Marika Kilius uns Hans-Jürgen Bäumler in die "Hall of Fame des deutschen Sports" aufgenommen. Foto: Picture Alliance

Annika Hocke: Ich stelle mir das sehr schwierig vor, Höchstschwierigkeiten zu zeigen, wenn man angewiesen ist auf das Wetter. Und dann schmilzt mal an einer Stelle das Eis... Ich mag es aber auch total gerne, draußen zu laufen, das ist ein anderes Gefühl. Alles hat Vor- und Nachteile.

Marika Kilius: Das stimmt. Da waren die Russen uns gegenüber im Nachteil, weil sie in der Halle trainiert haben. Wir haben immer gesagt: Hoffentlich schneit es, dann haben die eh keine Chance. 

Wir haben oft nachts von halb eins bis halb zwei trainiert, da war das Eis günstiger, denn meine Eltern mussten dafür ja bezahlen.

Am Tag standen wir Minimum sechs Stunden auf dem Eis.

Ihre Erfolge haben Sie in den 1960ern zu Popstars gemacht. Sie haben fast alles auf dem Eis gewonnen, kamen ständig in den Medien vor, waren im Kino zu sehen und landeten sogar in den Musik-Charts. Wie war das Leben als Popstar?

Annika Hocke: Superstar!

Marika Kilius: Dazu hat uns die schreibende Presse gemacht. Die waren überall, standen vor jedem Hotelzimmer – das war auch nicht immer so angenehm, aber da war ich schmerzfrei. Bei meiner Hochzeitsnacht saßen die Paparazzi sogar im Baum. Die großen Zeitschriften haben zehn-, fünfzehntausend Mark für eine Geschichte mit mir bezahlt – das gibt’s heute nicht mehr. Aber zur Wahrheit gehört auch: Ohne negative Presse wirst du nie ein Superstar. Die Leute können nicht nur lesen, dass immer alles toll ist.

Annika Hocke wird seit 2015 von der Sporthilfe gefördert, Robert Kunkel seit 2017, beide aktuell im Potenzial- Team. Foto: Picture Alliance

Was gab’s da so Negatives bei Ihnen?

Marika Kilius: Na allein schon, dass ich den Jürgen [Kilius‘ langjähriger Eispartner Hans-Jürgen Bäumler; Anm. d. Red.] nicht geheiratet habe! Das ist ja heute noch ein Thema. Wenn ich auf Menschen treffe aus der Zeit, kommt immer die Frage, wieso haben Sie den Herrn Bäumler nicht geheiratet?

Annika Hocke: Wirklich, immer noch? Das werde ich nicht gefragt. Aber das würde sich heute auch keiner mehr trauen, glaube ich. Auch vors Hotelzimmer zu kommen. Da würde es richtig Ärger geben.

Du nutzt Social Media, um einen Einblick zu geben in Alltag und Training. Wieso?

Annika Hocke: Weil ich mir wünsche, dass der Eiskunstlaufsport wieder populärer wird. Ich habe in letzter Zeit mit vielen Paarläuferinnen darüber geredet, dass wir eine sehr komplexe Sportart betreiben, die viele unterschätzen.

Wir würden uns wünschen, dass mehr Leute in die Hallen kommen. Es gibt Menschen, die den Sport gut kennen, aber die schauen keine Deutschen Meisterschaften, weil sie nicht verstehen, wie die Wertung funktioniert. Oder sie finden den Livestream im Internet nicht.

Marika Kilius: 

Das Fernsehen hat das Eiskunstlaufen praktisch entsorgt. Das finde ich eine Unverschämtheit.

Sie hätten nicht genügend Zuschauer – aber wenn sie es nie zeigen, können sich die Menschen ja auch nicht dafür entscheiden.

Die Gold-Kür von Aljona Savchenko und Bruno Massot 2018 in Pyeongchang hat allein bei YouTube 42 Millionen Views. Annika, Du warst live dabei. Wie hast Du das damals wahrgenommen?

Annika Hocke: Ich hatte das Glück, dass ich ganz nah dabei sein durfte und auch viel mit Aljona zu tun hatte. Irgendwann musste sie das Handy weglegen. Was mir einschneidend im Gedächtnis geblieben ist: Sie hat sich geärgert, dass ihr auf einmal Leute gratulierten, die sie vorher nie beachtet haben.

Marika Kilius: Sie hat damals zum ersten Mal richtig losgelassen und alles riskiert. Endlich! Mir sind die Tränen gelaufen. Wenn man seine Seele nicht geben kann, dann wird es nichts.

Annika Hocke: Es stimmt genau. Das hat man auch live in der Halle gespürt: Dass da eine andere Aljona auf dem Eis war. Wenn heute jemand was vom Eiskunstlaufen kennt, dann ist es diese Kür. Sie hat so einen Raum eingenommen und gar keinen Platz mehr gelassen für die anderen Paare. Das hat das gesamte Publikum gespürt und so viele Menschen berührt.

Jetzt fährst Du 2026 zum zweiten Mal zu den Olympischen Spielen und mit Minerva Hase/Nikita Volodin steht wieder ein anderes deutsches Paar im Fokus. Eher Chance für Dich und Deinen Partner Robert Kunkel oder nervt Euch das?

Annika Hocke: Keine Frage, man möchte immer der oder die Beste sein, aber man kann das nur als Chance nutzen. Wir können so komplett loslassen, weil der Hauptfokus nicht auf uns liegt. Wenn wir auf dem Eis sind, dann stehen wir da allein und alle müssen auf uns gucken. Darauf sollten wir uns konzentrieren. Und es ist auch eine privilegierte Situation, dass niemand sagt: “Hey, ihr müsst eine Medaille gewinnen.” Wir können einfach eine Bestleistung zeigen.

Frau Kilius, Sie mussten immer eine Medaille gewinnen. Wären Sie gerne mal die Außenseiterin gewesen?

Marika Kilius: Nö. Wenn schon, denn schon. Es ist ja dieselbe Arbeit. Ich war Paarläuferin, bin noch im Einzel gelaufen, außerdem noch Rollschuh, war da auch Weltmeisterin – ich hatte also immer Meisterschaften, Sommer wie Winter. Da ergibt sich eine Routine.

Was glauben Sie, wie gehen Hase/Volodin als WM-Zweite und amtierende Europameister mit den hohen Erwartungen um – geht da eine Olympia-Medaille?

Marika Kilius (zögert): Ja – wenn sie sich findet. Zuletzt war das nicht so toll. Aber wer schon im November gut ist, dem bringt das ja nichts für Februar.

Annika Hocke: Diese Saison ist es superspannend. Ich bin froh, dass der Paarlauf wieder ein bisschen interessanter geworden ist und niemand sagt, die oder die gewinnen auf jeden Fall. Die ersten vier, fünf Paare sind so dicht beieinander, da kann alles passieren. Uns würde ich in die nächste Gruppe einordnen, da sind auch fünf Paare auf einem ähnlichen Niveau. Diese Saison sind schon so viele komische Fehler passiert, dass es einfach ganz besonders darauf ankommt, an dem Tag seine beste Leistung zu bringen.

Foto: Picture Alliance

Marika Kilius: Ich finde übrigens, wenn weniger in den Küren drin wäre, wäre das besser. Die Paarläuferin hat ja gar keine Zeit, die Kür auch zu repräsentieren. Sie ist nur beschäftigt, mit diesem Dreifachsprung, mit jenem Dreifachsprung – ist das jetzt eine Einzelkür? Nein, es ist eine Paarlaufkür!

Annika Hocke: Wir sind ein Paar, das gerne selbst kreativ wird. Wir haben uns da auch bei “Holiday on Ice” ein bisschen was abgeschaut, was nicht konventionelles Paarlaufen ist. Das ist manchmal schwierig einzubauen. Ein Element folgt auf das nächste, die Choreo ist sehr kurz. Wir haben letztes Jahr versucht, eine neue Hebung einzubauen – aber das wurde von den Kampfrichtern nicht nur nicht belohnt, sondern sogar bestraft. Dann geht man halt wieder zurück zu den Sachen, die alle machen, weil sie die Punkte bringen.

Marika Kilius: … und das bremst den Sport aus! Eislaufen ist kein Abfahrtsrennen. Das gefällt den Menschen ja, dass jedes Paar für sich anders ist. Wenn jeder dasselbe macht, das ist doch furchtbar!

Annika, was motiviert Dich da noch, trotzdem mit dem Sport weiterzumachen?

Annika Hocke: Unsere letzte Saison war technisch nicht gut, aber wir haben als Feedback bekommen: Die Zuschauer und Medien haben bemerkt, dass wir was anders gemacht haben. Dann ist es mir das wert. Und ein bisschen gibt es auch die Hoffnung, dass sich der Sport nach den Olympischen Spielen doch etwas verändert. Ein paar Regeln sollen angepasst werden, die wieder ein bisschen mehr kreativen Freiraum geben würden. Und solange ich das Gefühl habe, ich kann und will noch mehr, höre ich nicht auf.

Und dieser Weg führt Euch jetzt nach Mailand Cortina 2026. Ihr trainiert schon seit einiger Zeit in Bergamo. Welche Bedeutung hat Italien für Euch?

Annika Hocke: Für Robert und mich ist es das Land, in dem wir richtig erwachsen wurden. Weil wir 2022 eigenständig und ohne Zustimmung des Verbands entschieden haben: wir müssen uns weiterentwickeln und dafür raus aus Berlin.

Sie hatten in Italien große Erfolge, haben zeitweise auch im Sommer in Cortina trainiert. Was bedeutet das Land für Sie, Frau Kilius?

Marika Kilius: Es war mein erster Freund (lacht). Ich war gerne in Cortina. Und ich liebe Italien.

Annika Hocke: Wir lieben das Land auch. 

Und wir merken, dass die Einstellung zum Sport generell und zum Eiskunstlaufen im Speziellen in Italien eine andere ist als in Deutschland. Es wird einfach viel mehr wertgeschätzt.

Stichwort Wertschätzung: Frau Kilius, Sie sind seit 2011 in der „Hall of Fame des deutschen Sports“. Was bedeutet Ihnen das?

Marika Kilius: Naja: Wenn man nicht drin wäre, würde man sich aufregen: Wieso bin ich nicht drin? (lacht) Ich habe mit der Sporthilfe und ihrem Gründer Josef Neckermann immer viel gesprochen. Dass die Sportler nach dem Sport wirklich gute Jobs kriegen, wo sie gutes Geld verdienen können, das findet immer noch nicht so statt. Da rede ich gerade mit der Sporthilfe und der Werte-Stiftung, ob wir da nicht noch was machen können.

Gegründet wurde die Sporthilfe im Vorfeld der Olympischen Spiele in München 1972. Hätte eine Initiative wie die Sporthilfe zu Ihrer Zeit auch schon geholfen?

Marika Kilius: Ich persönlich hätte sie nicht gebraucht, aber andere Athleten bestimmt. Wenn die Eltern kein Geld für den Sport hatten, hatte man einfach Pech.

Annika Hocke: Ich bin schon seit ich knapp 15 war in der Sporthilfe-Förderung. 

Und mir hat das wahnsinnig viel gebracht, weil ich so meine Eltern unterstützen konnte, die den Sport komplett finanziert haben.

Aber heute ist es ja nicht nur das Finanzielle: Gerade dieses Begleiten nach dem Sport ist so, so wichtig. An irgendeinem Punkt ist das Sportlerleben zu Ende, das man 20 Jahre geführt hat. Und viele Sportler wissen gar nicht, wie es dann weitergeht. Die Sporthilfe öffnet gute Türen und hilft dabei, sich zu orientieren.

Erschienen im Sporthilfe Magazin

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Foto: Nikolaj Majorov
Foto: Picture Alliance

Annika Hocke (Jahrgang 2000) stammt aus Berlin und begann ihre Karriere als Einzelläuferin. Bei den Olympischen Winterspielen in Pyeongchang 2018 ging sie mit Ruben Blommaert im Paarlauf an den Start und wurde 16. Seit 2019 ist Robert Kunkel ihr Partner. Das Paar feierte 2023 seinen bislang größten Erfolg mit Bronze bei der Europameisterschaft, 2024 folgte der fünfte Platz bei der WM. Annika Hocke wird seit 2015, Robert Kunkel seit 2017 von der Sporthilfe gefördert, beide aktuell im Potenzial-Team.

Marika Kilius (Jahrgang 1943) ist gebürtige Frankfurterin und war der Eiskunstlauf-Star der 1950er und 1960er Jahre. Ihr Olympia-Debüt gab sie als 13-Jährige 1956 in Cortina d’Ampezzo, damals noch mit Partner Franz Ningel. 1960 und 1964 gewann sie mit Hans-Jürgen Bäumler jeweils Olympia-Silber, gemeinsam wurden sie sechsmal in Folge Europameister sowie zweimal Weltmeister. 1964 wechselte das Paar ins Profilager. Kilius drehte Eiskunstlauffilme und stand bis ins Alter von 50 Jahren als Show-Läuferin auf dem Eis. Bäumler und sie sind seit 2011 Mitglied der „Hall of Fame des deutschen Sports“.



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