Foto: Frank Schemmann

Frankfurt am Main, 15.06.2021

Markus Rehm im Sporthilfe-Interview: "Es gibt keine rechtliche Grundlage mehr, mich von Olympia auszuschließen"

Para-Weitspringer peilt einen Start bei beiden Großereignissen an / Rehm unterstützt die Kampagne „Germany United“ der Sporthilfe für mehr Miteinander und Vielfalt in Deutschland

Para-Weitspringer Markus Rehm kämpft weiter um seine Olympia-Chance und würde dafür in Tokio auch außerhalb der offiziellen Wertung antreten. „Ich will mich mit den besten Athleten überhaupt messen und das auf dem größtmöglichen Event der Welt“, so der mehrfache Paralympics-Sieger in go!d, dem Magazin der Deutschen Sporthilfe. Anfang Juni hatte Rehm erneut den Para-Weltrekord verbessert und mit 8,62 Meter die nationale Olympia-Norm sowie den bestehenden deutschen Rekord (8,54 Meter) übertroffen. „Niemand muss sich in seinem Ego angegriffen fühlen, wenn einer mit Prothese weiter springt“, sagt Rehm. „Es ist überhaupt keine Schande, kürzer zu springen als ich. Das Problem besteht in den Köpfen mancher Leute.“ Bei einer Olympia-Teilnahme in Tokio gehe es ihm „nicht darum, jemandem die Medaille wegzunehmen oder Prämien abzustauben“. 

Rehm ist aktuell auch Teil der Sporthilfe-Kampagne „Germany United“, mit der die Stiftung für mehr Miteinander und ein neues Wir-Gefühl in der Gesellschaft sorgen will. Rehm ist auf dem Hauptmotiv von „Germany United“ zu sehen und äußert sich in einem Video-Clip der Sporthilfe zum Thema Vielfalt.

Abdruck des Interviews honorarfrei. Quelle: go!d – Das Magazin der Deutschen Sporthilfe.

Deutsche Sporthilfe: Markus, die Paralympics beginnen am 24. August, die Olympischen Spiele einen Monat früher. Wie realistisch ist es, dass Du bei beiden am Start stehst?

Markus Rehm: Diese Diskussion ist ja nicht neu und ich glaube, es ist immer noch schwer. Ich halte es aber nicht für unmöglich, weil die Regel, die das bislang verhindert hat, 2020 gekippt wurde. Es gibt jetzt keine rechtliche Grundlage mehr, mich von einer Teilnahme auszuschließen.

Der Internationale Sportgerichtshofs CAS hat im vergangenen Jahr ein Urteil gefällt, das die Beweislast zugunsten der paralympischen Athlet:innen veränderte.

Genau. Seit 2015 galt die Regel, dass ich als Athlet beweisen muss, durch die Prothese keinen Vorteil zu haben. Das ist unglaublich schwierig und meiner Meinung nach auch nicht rechtens – sonst müsste jeder andere Athlet nachweisen, dass er sauberen Sport betreibt. Nach der neuen Regel sind nun der Deutsche Leichtathletik-Verband beziehungsweise der Weltverband in der Pflicht, mir nachzuweisen, dass ich einen Vorteil habe. Wir müssen irgendwann mal klare Lösungen finden, um in Zukunft gemeinsam Sport treiben zu können.

Wieso ist es Dir so wichtig, auch an olympischen Wettbewerben teilzunehmen?

Für mich geht es darum, dass sich olympische und paralympische Athleten näherkommen. Wir haben eine Leidenschaft. Wir haben einen Sport. Wir springen beide in eine Sandgrube. Warum sollen wir das nicht gemeinsam tun? Es geht mir ausdrücklich nicht darum, jemandem die Medaille wegzunehmen oder Prämien abzustauben. Sondern um den Sport. Ich will mich mit den besten Athleten überhaupt messen und das auf dem größtmöglichen Event der Welt – gerne auch außerhalb der offiziellen Wertung.

Kannst Du nachvollziehen, wenn olympische Athleten Dir gegenüber Vorbehalte haben?

Niemand muss sich in seinem Ego angegriffen fühlen, wenn einer mit Prothese weiter springt. Ich habe mich nie auf meine Prothese reduziert und es ist überhaupt keine Schande, kürzer zu springen als ich. Das Problem besteht in den Köpfen mancher Leute. Viele sehen mich als den, ich sage es einmal hart, behinderten Athleten. Und kürzer zu springen als der Behinderte geht natürlich gar nicht, das kratzt am eigenen Ego. Deswegen finde ich auch diesen Beinamen „The Bladejumper“ so schön, dann ist es für die Leute vielleicht auch ein bisschen einfacher zu sagen: Es ist ein Profisportler und nicht irgendein Hobbyathlet, der uns gerade geschlagen hat. Ich finde es wichtig, dass die Menschen genau das verstehen.

Hast Du den Eindruck, dass sich die Wahrnehmung des Para-Sports in den letzten Jahren verändert hat?

Es hat sich sehr viel verändert. Die Athleten sind besser geworden, die Leistungen sind besser geworden. Aber ich glaube, unser Sport hat noch nicht das Image, das er mittlerweile verdient. Ich sehe meine mögliche Olympia-Teilnahme auch als Werbung für unseren Sport. Das würde helfen zu zeigen: Hey, wir sind genauso leistungsfähig wie die olympischen Athleten und es lohnt sich, auch bei uns ins Stadion zu kommen.

2002 hast Du bei einem Wakeboard-Unfall Deinen rechten Unterschenkel verloren. Wie sieht es 2021 in dem noch immer Supersportler Markus Rehm aus?

Ich lebe heute ein großartiges Leben. Meine Leidenschaft, mein Hobby habe ich zum Beruf machen können. Ich komme viel herum, lerne viele Menschen kennen, habe durch den Sport auch den tollen Job des Orthopädietechnikers kennengelernt, den ich wahnsinnig gerne mache. Ich könnte es mir anders gar nicht mehr vorstellen. Natürlich wünscht man dieses Schicksal niemandem, aber ich würde heute keine Medaille mehr eintauschen wollen für ein gesundes Bein.

Auf Deiner Website steht der schöne Satz: „Ich lasse mich nicht behindern.“ Hat sich das ein Marketing-Stratege ausgedacht oder ist es Dein Lebensmotto?

Ich habe es mir aus einem Buch abgeschaut, aber es ist wirklich mein Motto geworden. Der Satz bezieht sich auf das Leben allgemein. Jeder bekommt doch mal vorgeschrieben, was er vermeintlich kann oder eben nicht, bekommt Grenzen gesetzt. Bei mir war es damals mein Handicap, meine Prothese, die „Behinderung“, die ich vermeintlich habe. Diese Grenzen wollte ich nie akzeptieren, auch nicht im Sport, wo es hieß: Ein paralympischer Weitspringer darf nicht weiter springen als ein olympischer Weitspringer. Wieso nicht? Ich trainiere mindestens genauso hart und warum soll ich nicht genauso weit oder auch weiter springen? Deswegen: Lass dich nicht behindern, lass dir von niemandem Grenzen aufzeigen, die nur in den Köpfen der anderen bestehen.

Stichwort Grenzen: Den Para-Weltrekord hast Du schon mehrfach verbessert, aktuell steht er bei 8,62 Metern. Wo ist das Limit?

Das ist ja das Spannende: Nach dem Limit suche ich seit zwölf Jahren. Bei den Paralympics 2012 in London hat mich ein Journalist gefragt, ob ich glaube, dass irgendwann ein Para-Sportler über acht Meter springen wird. Ich bin damals 7,35 Meter gesprungen und habe gesagt: Klar, ich glaube schon, dass es da jemanden gibt. Ich weiß nicht, ob ich das sein werde, aber ich bin mir sicher, es geht. Jetzt liege ich bei über achteinhalb Metern und hoffe, dass es noch ein bisschen weitergeht.

Markus Rehm (*1988 in Göppingen)

Markus Rehm verlor als 14-Jähriger in Folge eines Unfalls beim Wakeboard-Training seinen rechten Unterschenkel. Dank des großen Rückhalts von Familie und Freunden schaffte er aber schnell den Weg zurück in den Sport. Als Para-Weitspringer gewann Rehm zweimal Gold bei den Paralympics, wurde fünfmal Weltmeister und verbesserte mehrfach den Weltrekord. Weitere Medaillen, darunter ein weiteres Mal Paralympics-Gold, holte er als Teil der 4x100 m-Staffel. 2014 siegte er außer Konkurrenz beim Weitsprung-Wettbewerb bei den Deutschen Meisterschaften der Nicht-Behinderten und kämpft seitdem für eine Teilnahmeparalympischer Athlet:innen auch an Wettkämpfen im olympischen Sport. Neben seiner Leistungssportkarriere arbeitet der „Para-Sportler des Jahrzehnts“ als Orthopädietechniker-Meister bei einem Prothesenhersteller. Bereits seit 2009 wird Rehm von der Deutschen Sporthilfe gefördert. 

Die aktuelle Ausgabe des „go!d“-Magazins der Sporthilfe als PDF lesen: https://bit.ly/3pTJKCc


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