Kea Kühnel: "Anfangs hat mich niemand ernstgenommen oder an mich geglaubt"

Ski-Freestyle-Fahrerin Kea Kühnel hat Bemerkenswertes geschafft: Als Spätstarterin aus dem flachen Norden mischt sie seit einigen Jahren den Wintersport-Zirkus auf, 2018 war sie Bremens erste Winter-Olympionikin überhaupt. Parallel dazu studiert die 28-Jährige zwei Studiengänge in zwei Ländern: Im Master "Accounting, Auditing and Taxation" in Innsbruck und im Bachelor Sinologie in München. Nun steht sie zur Wahl zum "Sport-Stipendiat des Jahres 2019".


Kea, ein Nordlicht im Wintersportzirkus, das hat Seltenheitswert. Wie bist Du aus Bremerhaven zum Freeskiing gekommen?

Kea ist das hawaiianische Wort für „Schnee“, vielleicht war mein Weg in den Wintersport also vorgezeichnet (lacht). Nein, meine Eltern sind große Ski-Fans und haben mich schon mit zwei Jahren auf die Bretter gestellt. Von Haus aus bin ich aber eigentlich Turnerin. Zum Freeskiing bin erst mit Anfang 20 in Japan gekommen, als ich nach dem Abi für zwei Jahre in Shanghai war. Meinen jetzigen Studienort habe ich übrigens danach ausgewählt, wo die meisten Freeskiier leben – und das war in Innsbruck. Auch wenn mich anfangs viele belächelt haben.

Dreimal landete Kea Kühnel in der Saison 2018/19 in ihrer Lieblingsdisziplin Big Air auf dem Weltcup-Podest. Der Lohn: Platz 3 in der Weltcup-Gesamtwertung. Sie sagt: "Letztes Jahr habe ich extrem hart trainiert, im Prinzip drei Saisons in nur einem Sommer nachgeholt. Das hat sich ausgezahlt, aber ich bin noch lange nicht da, wo ich hinmöchte."

Du vergleichst Deine Geschichte mit der des englischen Skispringers „Eddie the Eagle“ und der jamaikanischen Bobmannschaft bei den Olympischen Winterspielen 1988, die im Film „Cool Runnings“ verewigt wurde. Was verbindet Euch?

Ich erkenne mich in beiden Biographien wieder. Niemand hat sie ernstgenommen oder an sie geglaubt, es gab keine Unterstützung von außen – und doch konnten sie ihre Träume verwirklichen und das Unmögliche möglich machen. So ähnlich war es bei mir als extreme Spätstarterin aus dem Flachland auch. Bei meinem ersten Weltcup-Start war ich fast 25, zwei Jahre später war ich auf einmal bei den Olympischen Winterspielen – verrückt.

Als erste Bremer Winter-Olympionikin überhaupt. Wie war das für Dich?

Alles in allem war es eine krasse Erfahrung. Dass ich überhaupt nach Südkorea fahre, stand erst eineinhalb Wochen vorher fest. Ab diesem Zeitpunkt klingelte mein Handy pausenlos, gefühlt alle nord- und süddeutschen Zeitungen wollten mit mir sprechen. Den Trubel, der dann während der Spiele zuhause herrschte, bekam ich in Pyeongchang nicht wirklich mit. Bei den Spielen ist man im Tunnel, hat keine Zeit zum Durchatmen oder gar Abschalten.

Freeskiing, oder auch Ski Freestyle, das ist keine ganz alltägliche Sportart. Wie würdest Du sie einem Laien beschreiben?

Puh, das ist schwierig. Und nicht so leicht zu verstehen, weil wir Freeskier quasi unsere eigene Sprache haben. Ich würde es so probieren: Beim Freeskiing gibt es die Disziplinen Halfpipe, Big Air und Slopestyle. Ich gehe auf der Big Air, einer circa 25 Meter hohen Schanze, und im Slopestyle an den Start – das ist ein Kurs, der gespickt ist mit Schanzen und Eisengeländern, auf denen man in verschiedenen Richtungen abspringt und möglichst schwierige Tricks zeigt. Bewertet wird nach den Kriterien Ausführung, Höhe und Landung.

Das beherrschst Du inzwischen par excellence, vergangene Saison warst Du Dritte im Gesamtweltcup. In drei Jahren vom Weltcup-Debüt bis in die Weltspitze – wie hast Du diesen „Rückstand“ aufgeholt?

Mit viel Fleiß und großem Ehrgeiz. Der Weg war sehr schwierig, aber ich bin froh, dass ich ihn trotz aller Hindernisse gegangen bin. Dass ich früher geturnt habe, hilft mir natürlich. Trotzdem kam Olympia 2018 eigentlich zu früh, ich wusste schon damals, dass ich mein Potenzial noch nicht einmal ansatzweise ausgeschöpft habe. Deswegen habe ich letztes Jahr extrem hart trainiert, im Prinzip drei Saisons in nur einem Sommer nachgeholt. Das hat sich ausgezahlt, aber ich bin noch lange nicht da, wo ich hinmöchte.

Dabei besteht Dein Leben nicht nur aus dem Sport. Du studierst in Innsbruck „Accounting, Auditing and Taxation“ und – als wäre ein Studium neben Spitzensport nicht schon genug - parallel in München Sinologie. Wie ist das überhaupt möglich?

Natürlich ist es eine Wahnsinnsaufgabe, neben der Skikarriere zwei Studiengänge in zwei verschiedenen Städten zu bewältigen. Das erfordert sehr viel Disziplin. Aber es macht Spaß und durch den Sport bin ich noch ehrgeiziger und zielstrebiger geworden als zuvor. Der Master in Innsbruck fordert mich enorm und das Umfeld dort ist enorm kompetitiv. Chinesisch kann ich zum Glück im Selbststudium studieren, da mich die LMU in München dankenswerterweise vom Unterricht freigestellt hat.

Was bedeutet Dir Dein Leben abseits der Piste?

Es ist mir wirklich sehr wichtig, neben der Sportkarriere etwas Anderes zu machen. Ich weiß, so oder so ähnlich drücken es viele Athleten aus. Aber für mich ist das Studium eben nicht nur der mentale Ausgleich zum Sport, sondern vor allem eine Absicherung. Unser Sport ist von Verletzungen geprägt, daher ist es super wichtig, ein zweites Standbein zu haben.

"Anfangs haben mich viele belächelt", sagt Kea Kühnel über die Skeptiker, die ihr eine Karriere im Wintersportzirkus nicht zutrauten - mit ihrem großen Fleiß und unbändigem Ehrgeiz hat sie alle Kritiker zum Schweigen gebracht.

Solltest Du verletzungsfrei bleiben, stünde als nächstes ein „Heimspiel“ für Dich an: Die WM 2021 und die Olympischen Spiele 2022 finden beide in Peking statt – da kennst Du dich als China-Expertin ja bestens aus.

Richtig. Natürlich habe ich da Bock drauf. Aber in unserer Sportart ist es schwierig zu sagen, was die Zukunft bringt. Notfalls bin ich aber bestimmt als Dolmetscherin mit dabei (lacht).


Steckbrief Kea Kühnel

Geburtstag 16. März 1991 in Bremerhaven
Sportart Ski Freestyle, Slopestyle und Big Air
Wohnort Innsbruck
Verein SC Bremerhaven
Größte Erfolge Olympia-18. im Slopestyle; Gesamtweltcup-Dritte Big Air 2018/19
Studium Accounting, Auditing and Taxation (Master) sowie Sinologie (Bachelor)
Universität Leopold-Franzens-Universität Innsbruck / Ludwig-Maximilians-Universität München


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