Mütter im Leistungssport sind nach wie vor eine Seltenheit. Vor der Entscheidung, als aktive Leistungssportlerin ein Kind zu bekommen, scheuen sich viele Athletinnen – der Karriereknick scheint vorprogrammiert. Jedoch zeigen prominente Beispiele wie etwa Leichtathletin Gesa Krause, Rodlerin Dajana Eitberger oder Beachvolleyball-Olympiasiegerin Laura Ludwig, dass die Vereinbarkeit von Familie und Erfolg im Spitzensport durchaus gelingen kann. So auch Para-Kanutin Edina Müller.
Edina Müller ist in vielerlei Hinsicht ein sportliches Vorbild in Deutschland. Ihre herausragenden Erfolge – fünf Paralympics-Teilnahmen mit fünf paralympischen Medaillen (zweimal Gold, zweimal Silber, einmal Bronze) in zwei völlig unterschiedlichen Sportarten (Rollstuhlbasketball 2006-2013, Para-Kanu 2014 bis heute) – brachten ihr die Wahl als deutsche Fahnenträgerin für die Paralympics 2024 in Paris ein.
Die heute 41-Jährige hat aber auch über inzwischen sechs Jahre vorgelebt, wie Spitzenathletinnen in voller Berufstätigkeit die Mutterrolle auch noch vorbildlich in den Alltag integrieren können. Sohn Liam ist im Frühjahr sechs Jahre alt geworden. Sechs Jahre in denen Edina Müller ihren Fokus verschoben hat. Liams Glück und Bedürfnisse bestimmen ihren Alltag. Sie gestaltet ihre Leistungssportlerkarriere drumherum.
Ja, das geht, aber es ist eine zusätzliche Managementaufgabe für eine vielbeschäftigte Frau, die bei ihrem, wie selbst wegen der großen Unterstützung sagt „größten Sponsor“, dem BG Klinikum in Hamburg, in Vollzeit als Sporttherapeutin arbeitet und als Para-Kanutin auch nach über zehn Jahren zur absoluten Weltspitze gehört. Immer wieder hat sie dafür Liam aus der Kita genommen, ihn mit auf Lehrgängen und Wettkämpfen oder bei repräsentativen Terminen dabei gehabt.
Edina Müller hat gelernt, volle Aufmerksamkeit bei ihrem fröhlichen, lebhaften Sohn zu haben, der seiner Mutter im Rollstuhl jederzeit locker davonlaufen könnte, und gleichzeitig Interviews zu geben, Impulsvorträge zu halten oder eben ihren Körper, der seit ihrem 16. Lebensjahr durch einen ärztlichen Behandlungsfehler querschnittgelähmt ist, zu Höchstleistungen zu trainieren. Wer Mutter und Sohn dabei beobachtet, kommt nicht umhin bewundernd festzustellen, was für ein besonderes Tandem die beiden sind.
Doch auch an einer absoluten Top-Athletin gehen die dauernden Mehrfachbelastungen nicht spurlos vorbei. Vor den Paralympics entwickelte Edina Müller ein Fatigue-Syndrom, kam aus der dauerhaften Erschöpfung aber wieder zurück und gewann in Paris Kanu-Bronze. Zu Beginn 2025 warf sie eine Grippe aus der Bahn, was die Vorbereitungen auf die Qualifikation für die Top-Wettkämpfe WM und EM in diesem Jahr extrem erschwerte. Trotzdem schaffte sie es, Ende April in Duisburg die nationalen Quali-Wettbewerbe zu meistern.
Doch es gibt eine neue Hürde, die sich gerade vor Edina Müller aufbaut und von der sie noch nicht genau weiß, wie sie sie überwinden kann. Es ist die Einschulung von Liam - eigentlich ja ein Ereignis, auf das sich Eltern freuen - die ihr Sorgen macht. „Ihn mal für ein paar Tage oder Wochen aus dem Kindergarten zu nehmen, war nie ein Problem“, erzählt die mehrfache Paralympicssiegerin. „Das kann man aber mit einem Schulkind nicht mehr so einfach machen. Ich muss schauen, wie sich das auf den Lehrgangs- und Wettkampfkalender auswirkt.“
Diese Ungewissheit ist ein Grund, warum Edina Müller noch nicht entschieden hat, ob sie wirklich 2028 in Los Angeles als ihre sechsten paralympischen Spiele ins Auge fassen kann. Wollen würde sie.
Aber die Rahmenbedingungen im Parasport sind schwierig. Es gibt nur noch für die Nationalkader-Lehrgänge finanzielle Unterstützung, eine Umwidmung, wenn wie im Januar für den sogenannten „Warmwasserlehrgang“ in der Türkei für Müller die Rahmenbedingungen nicht passten und sie stattdessen nach Florida reisen musste, um sich ideal auf die Saison vorzubereiten, gehen nicht mehr.
„Das war im Paralympics-Jahr 2024 noch anders, da war auch für den Behindertensport mehr Geld da“, erzählt Edina Müller, die große Hoffnungen auf die Sportförderpläne der neuen Bundesregierung setzt. „Für uns sind die Kaderkriterien extrem hart. Wer es nicht ins WM-Finale unter die Top Vier schafft, wird in den Perspektivkader downgegradet.“ Für berufstätige Mütter ist es umso schwerer, sich mit Konkurrentinnen zu messen, die nicht diese Mehrfachbelastung meistern müssen. Unterstützung erfährt Edina Müller seit inzwischen 19 Jahren von der Sporthilfe, aktuell ist sie in der Top Team-Förderung.
„Eine wirkliche Hilfe für Mütter ist nicht existent“, sagt Edina Müller daher auch kritisch. „Ich habe persönlich das Glück, dass mein Bundestrainer mich unterstützt, indem er versucht, meine Rahmenbedingungen in das Große und Ganze zu integrieren. Aber in den Verbandsstrukturen in Deutschland ist das Bemühen um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf mit dem Sport noch nicht angekommen. Ich würde mir wünschen, dass die Vertreter aller Verbände es mehr unterstützen und sich bemühen, die Rahmenbedingungen zu verbessern“.
Aktuell empfinden Sportlerinnen wie sie oft eine Ablehnung – man habe das subjektive Gefühl, dass gehofft werde, die Mütter unter den Sportlerinnen mögen scheitern, um diese „Zusatzproblematik“ und den logistischen Mehraufwand nicht mittragen zu müssen. Edina Müller hat mit Kanu-Legende Birgit Fischer schon ausführlich über diese Thematik diskutiert und schaut gerade auf Lauf-Star Gesa Krause, die sich mit ihrem Töchterchen in der Situation befindet, wo Müller mit Liam vor ein paar Jahren war.
Es gebe gute Beispiele, die Mut machen, sagt Edina Müller, wie ein Projekt des Tennisweltbandes WTA, der einen bezahlten zwölfmonatigen Mutterschutz eingeführt hat, oder kleinere Ansätze, zum Beispiel beim Deutschen Seglerverband. „Die Verbände müssen es wollen und vermutlich braucht es einen Sponsor, der die Finanzierung übernimmt“, resümiert sie.
Die Rückmeldungen, wie schön es sei, dass Liam die Erfolge seiner Mutter, wie zuletzt in Paris, hautnah miterleben könne, lassen Edina Müller etwas müde lächeln. „Ja, sicher, aber wo sollte er denn sonst auch sein?“